Wer nicht übt, bleibt dumm

Dem Angreifer dabei zu helfen, dir weh zu tun, ist nicht besonders schlau. Und doch tun das die meisten. Natürlich nicht mit Absicht, sondern weil unsere spontanen (ungeschulten) Reaktionen so dumm sind. Eigentlich könnten wir unseren Verstand benutzen, um möglichst gewaltfrei zu leben — aber leider…

Beispiel 1: Die Beleidigung. Da hat sich jemand die Mühe gemacht, ein Wort auszuwählen oder einen Satz zu formulieren, der mir weh tun soll. Soll ich ihm glauben, ihm auf den Leim gehen, das tun, was er will, aber nicht mein Ziel sein kann: mich verletzen lassen? Besser nicht – aber viele Menschen tun genau das. Seelischen Selbstschutz kann man lernen!

Beispiel 2: Die Provokation. Jemand möchte mit mir kämpfen und versucht nun, mich so lange zu reizen, bis mir der Geduldsfaden reißt. Gehe ich in seine Falle, hat er sein Ziel erreicht — ich erlaube dem Angreifer, mein Verhalten zu steuern. Zinédine Zidane im Endspiel der Fußball-WM 2006 sei uns warnendes Beispiel. Vorbild sei der Samurai Bokuden: Auf einer kleinen Fähre gab ein junger Mann mit seinem Fechtkünsten an und ärgerte sich über Bokuden, weil der ihm keine Beachtung schenkte. Vor Wut forderte er Bokuden zum Zweikampf, der sich einverstanden erklärte. Als die Fähre angelegt hatte und der junge Mann kampfbereit ans Ufer sprang, stieß Bokuden das Boot vom Ufer ab und ließ den Angeber, den er sonst hätte töten müssen, wild gestikulierend am Ufer zurück. Cool bleiben kann man lernen!

Beispiel 3: Der körperliche Angriff. Auf Schubsen reagiert man mit Zurückschubsen, auf Ziehen mit Ziehen in die Gegenrichtung, auf Schlagen mit Zurückschlagen. Wie dumm, denn damit lassen wir uns auf die Methode des Angreifers ein, die er aber gerade deshalb gewählt hat, weil er darin überlegen ist. Viele setzen ihre Gesundheit und sogar ihr Leben ein, um Gegenstände zu verteidigen – wie dumm! Instinktiv richtet sich die Gegenwehr auf die Stelle des Angriffs: auf die würgenden Hände, die umklammernden Arme usw. — wie dumm, denn dort ist die Kraft und Aufmerksamkeit des Angreifers konzentriert; dort ist er am allerstärksten! Den Wettkampf Kraft gegen Kraft gewinnt der Stärkere, also der Angreifer.

Beispiel 4: Befreien und Weglaufen. Ein Griff oder eine Umklammerung ist für den Angreifer bloß Mittel zum Zweck. Wenn ich meine Hand befreie, befreie ich auch seine. Wenn ich seine würgenden Hände von meinem Hals wegbekomme, greift er erneut an. Sich zu befreien, nutzt dem Verteidiger überhaupt nichts; es ist für den Angreifer kein Grund, den Angriff abzubrechen. Weglaufen ist falsch. Fliehen ist nur gut, wenn es die Situation des Verteidigers verbessert. Er muss also wissen, wohin er laufen muss (nämlich zu anderen Menschen hin), und wie er verhindert, vom Angreifer verfolgt zu werden (nämlich weil der nichts mehr sieht, oder nicht mehr laufen kann).

Beispiel 5: Rache. Wem nützt sie? Wenn mich jemand kränken will, habe ich Mitleid mit ihm, denn er muss sehr unglücklich sein. Schafft es jemand, mich zu verletzen, will ich heilen. Dasselbe zu tun, was ich dem Angreifer vorwerfe, hilft dabei nicht. Eine schlagfertige Antwort nützt niemandem; einen Beleidigungs- oder Anschrei-Wettkampf kann man nicht gewinnen. Statt sich rächen zu wollen, sollten wir trauern lernen.

Gegenbeispiel: Proaktive Selbstverteidigung. Statt bloß auf einen Angriff zu warten und dann darauf zu reagieren, können wir aktive Friedensarbeit leisten. Jeder kann dazu beitragen, die Zahl aggressiver Auseinandersetzungen zu vermindern – schon Kleinigkeiten verbessern die Stimmung. Beispiele: die Verwendung von Ich-Sätzen, Kritisieren des Verhaltens statt der Person, schweigen selbst wenn man im Recht ist, Marshall Rosenbergs „Gewaltfreie Kommunikation“ u.v.m. Selbstverteidigung heißt, die eigene Situation zu verbessern, nicht bloß auf einen Angriff zu reagieren.

Intelligente Selbstverteidigung kann man lernen!