Notwehr oder Kampfsport

Wer den Begriff „Selbstverteidigung“ ernst nimmt, muss ihn scharf von Kampfsport und Kampfkunst trennen. Selbstverteidigung hat nichts damit zu tun, einen Kampf zu gewinnen. Der Angreifer will nicht kämpfen, sondern dominieren, seine Überlegenheit demonstrieren. Der Verteidiger will nicht kämpfen, sondern in Frieden gelassen werden. Wer freiwillig kämpft, wie Polizisten, Türsteher, Hooligans oder Soldaten, macht keine Selbstverteidigung. Selbstverteidigungskenntnisse brauchen Menschen, die nicht kämpfen wollen. Selbstverteidigung muss helfen gegen gegen strafende Eltern, fummelnde Priester, date rapes, gegen männliche Hegemonie, gegen strukturelle Gewalt usw., sonst hat sie ihren Namen nicht verdient.

Die Kampfsport- und Kampfkunstarten, die heute von den freiwillig Kämpfenden trainiert werden, sind (mit wenigen Ausnahmen) auf mittelalterlichen Schlachtfeldern entstanden; sie haben jahrhundertealte Traditionen und Mythen. Realistische Selbstverteidigung im 21. Jahrhundert muss, traditionslos und pragmatisch, auf der Realität von heute gegründet sein, auf den aktuellen Erkenntnissen der wissenschaftlichen Kriminalistik und Psychologie. Selbstverständlich ist die Trennung zwischen Selbstverteidigung und Kampfkünsten nicht vollständig. Die strategischen Erkenntnisse z.B. von Sunzi oder Miyamoto und auch einige Kampftechniken lassen sich durchaus zur Selbstverteidigung nutzen. Das oberste Prinzip muss jedoch sein, alle Kräfte einzusetzen, um nicht zu kämpfen. Gelingt dies nicht, ist alles daran zu setzen, den Kampf zu beenden (und nicht etwa: „zu gewinnen“). Und selbstverständlich Gewiss kann es nicht schaden, Kampfsport zu trainieren. Die Überzeugung, sich wehren zu können, kann über die Körpersprache dafür sorgen, potentielle Gewalttäter abzuschrecken.

Einige Tatsachen, die zu berücksichtigen sind:

  • Ein physischer Angriff von einem Fremden ist extrem selten. Die große Mehrheit der Täter sind Bekannte oder Verwandte des Opfers. Die große Mehrheit der Angriffe ist psychisch-manipulativer, nicht physischer Natur.
  • Die Opfer physischer Gewalt sind mehrheitlich junge Männer.
  • Frauen werden für dieselbe Arbeit immer noch deutlich schlechter bezahlt als Männer.
  • Über den Ausgang eines physischen Kampfes entscheidet mehr als alles andere der Zufall.
  • Es ist intelligent, nicht feige, einem Kampf auszuweichen, Hilfe zu holen usw.
  • Täter sind Feiglinge, ihre Angst macht sie gefährlich. Ihr Motiv ist Macht.
  • Der einzige Grund für einen Täter, einen begonnenen Angriff abzubrechen, ist, dass er Angst bekommt.
  • Mit Kraft kann man nur gegen Schwächere gewinnen.

Wissen ist wichtiger als Kondition. Gefährliche Situationen kann man nur vermeiden, wenn man ihre Merkmale kennt. Deeskalationstechniken sind wichtiger als Wurftechniken. Die eigenen Ängste anzuerkennen ist wichtiger, als sie hinter martialischen Gehabe zu verstecken. Beim Kampfsport-Training lernt man, wie man richtig kämpft. Bei „Mit Grips gegen Muckis“ lernt man, wie man nicht kämpft. Daraus resultieren erhebliche Unterschiede:

  • Am Kampfsport-Wettkampf nehmen beide Teilnehmer freiwillig teil.
  • Einen Kampfsport-Wettkampf kann der Unterlegene jederzeit (durch Aufgabe) abbrechen.
  • Im Ernstfall gibt es Angreifer und Verteidiger. Ihre Rollen sind klar getrennt und mischen sich nicht.
  • Im Ernstfall gilt: Der Angreifer muss nicht unbedingt gewinnen, denn er kann sich einen anderen Tag, einen anderen Ort und ein anderes (leichteres) Opfer suchen. Er darf nur nicht verlieren, denn das würde seine Misere noch schlimmer machen.
    Der Verteidiger muss ebenfalls nicht gewinnen, er will nur, das der Kampf schnellstmöglich endet. Er darf nur nicht verlieren, und dies ist recht einfach zu erreichen.
  • Im Wettkampf ist das Ziel meines Gegners, den Wettkampf zu gewinnen, also mich nach den Regeln der Kunst zu besiegen. Im Ernstfall will unser Widersacher ein ganz spezifisches Verbrechen ausführen, z.B. Raub, Beleidigung, Körperverletzung usw. Dieser scheinbar kleine Unterschied hat sehr weitreichende Konsequenzen.
  • Mein Ziel im Ernstfall ist, der Gefahr zu entkommen. Wie der legendäre Samurai Bokuden es ausdrückte: „Es ist nicht mein Ziel zu siegen. Mein Ziel ist, nicht besiegt zu werden.“ – ebenfalls ein riesiger Unterschied!
  • Im Ernstfall entscheiden die psychischen Vorgänge des Opfers und des Täters über den Ausgang des Kampfes: Wer aufgibt,verliert.
  • Wer im Kampfsport-Wettkampf seinen Gegner absichtlich verletzt, wird zum Verlierer erklärt. Im Ernstfall ist es natürlich umgekehrt.
  • In jeder Kampfsportart gibt es Gewichts- und Altersklassen; aus Gründen der Fairness kämpfen immer möglichst gleich große bzw. gleich schwere Partner miteinander. Warum ist das wohl so? Weil nur sehr wenige Kampfsport-Techniken gegen körperlich Überlegene funktionieren. Im Ernstfall ist der Angreifer körperlich überlegen (sonst ist es kein Ernstfall).
  • Im Kampfsport geht es immer nur um körperliche Auseinandersetzungen, während im Alltag viel verbale/psychische Gewalt herrscht. Selbstverteidigung gegen Mobbing, Rassismus, Sexismus und andere Dominanzverbrechen ist keine Sportart.
  • Nur sehr wenige Menschen werden jemals in ihrem Leben so akut-brutal-physisch angegriffen, dass der Einsatz von Kampfsporttechniken nach ethischer und juristischer Beurteilung (s. Notwehr-Paragraph) gerechtfertigt ist.
  • Viele Techniken, die im Kampfsport gelehrt werden, zum Beispiel Würfe, Griffbefreiungen oder Entwaffnungen, sind in der realistischen Selbstverteidigung grundsätzlich und immer falsch.
  • Kampfsportarten bieten nur wenig Hilfe bei realen Gewaltsituationen. Gegen Grapscher im Büro, auf dem Schulhof und beim Streit um den Parkplatz gelten Ellbogenschläge ins Gesicht als nicht akzeptabel.
  • Im Kampfsportverein wird alles unternommen (z.B. durch Regeln), damit die Übenden keine Angst haben, während ein richtiger Täter alles unternimmt, damit das Opfer möglichst viel Angst hat.
  • Physische Angriffe dauern durchschnittlich fünf Sekunden, alles geht rasend schnell. Das ausgedehnte Konditionstraining der Kampfsportarten ist nur für Wettkämpfe erforderlich, aber für Notwehrsituationen überflüssig.
  • Zhuangzi, vor etwa 2500 Jahren: “Ist der Siegespreis eine Ziegelscherbe, werden die Kämpfer all ihre Kräfte einsetzen. Geht es um eine Gürtelschnalle, lenkt sie das ab; können sie sogar Gold gewinnen, werden sie ganz unkonzentriert zur Sache gehen.” Und wenn der “Siegespreis” das eigene Leben ist? Die “Fliehen-oder-Kämpfen”-Stressreaktion lässt sich in der Turnhalle nur sehr schwer künstlich hervorrufen.
  • Der Wettkampf-Gegner aus der Turnhalle wird immer nur mit den für seine Kampfsportart spezifischen Techniken angreifen. Wie sich ein echter Angreifer verhält, lässt sich nie vorhersehen. Peyton Quinn erzählt von einem Karateka, der auf der Straße zusammengeschlagen wurde und dieses später so kommentierte: „Er hat nicht die richtigen Fehler gemacht.“ (“He didn’t make the right mistakes”, in Quinns herausragenden Buch “A Bouncer’s Guide to Barroom Brawling”, Paladin Press, Boulder 1990).
  • Im Kampfsport lernt man, zumindest in den ersten Jahren, bestimmte Verteidigungen gegen bestimmte Angriffe: “wenn er so macht, mache ich so”. Die Verteidigung muss sich jedoch danach richten, warum er „so“ macht.
  • Selbstverteidigung kann nicht trainiert werden. Weder die mentalen Prozesse, die im Ernstfall ablaufen, lassen sich simulieren, noch Fingerstiche in die Augen, Knochenbrüche, Handkantenschläge zum Kehlkopf usw. Wir können nicht so tun, als wären wir in einer lebensgefährlichen Situation. Entweder wir sind es, oder wir sind es nicht.
  • Ab und zu geschieht es bei uns im Karate-Training, dass zwei Sportler oder Sportlerinnen ernsthaft aneinander geraten. Was dann geschieht, ist außerordentlich ernüchternd: alles was sie je gelernt haben ist vergessen, blindwütig gehen sie aufeinander los wie Kirmesschläger – Kratzen, Beißen und Spucken inklusive.
  • Es ist eher kontraproduktiv, viele verschiedene Abwehrtechniken zu trainieren: erstens hat man nicht die Zeit, sie anzuwenden, zweitens verlängert es die Reaktionszeit, sich im Kampf zwischen mehreren Alternativen entscheiden zu müssen, drittens muss viele Jahre sehr intensiv geübt werden, um sich gegen unbekannte, unsauber kämpfende Gegner mit technischen Mitteln durchsetzen zu können.
  • Kampfentscheidende Techniken sind in den Kampfsportarten verboten. Auf der Straße gibt es aber keine Punktsiege. Dazu John ‘Lofty’ Wiseman, Ausbilder der britischen Eliteeinheit SAS: “Wenn etwas im Kampfsport als Verstoß gewertet wird, ist es wahrscheinlich hervorragend für die Selbstverteidigung geeignet.”
  • Im Kampfsport kämpfen die Partner nach abgesprochenen Regeln. Echte Angreifer kämpfen unfair.
  • Im Kampfsport fehlt der Schockeffekt des Überfallenwerdens (Hinterhalt).
  • Im Kampfsport fehlt die Möglichkeit, dass der Gegner plötzlich eine Waffe zieht.
  • Im Kampfsport wird fast ausschließlich 1 gegen 1 gekämpft. Im Ernstfall sieht man sich oft mehreren Angreifern gegenüber.
  • Die Trainingspartner in der Turnhalle lernt man mit der Zeit gut kennen, weiß, wie sie sich bewegen, man stellt sich auf ihre Stärken und Schwächen ein, etc.
  • Die Ausführung von Kampfsport-Techniken erfordert äußerst präzises Timing, was einen ruhigen Geist voraussetzt.
  • Verdrängt wird, dass die meisten Gewalttaten gegen Kinder innerhalb der Familie verübt werden. Verdrängt wird, dass wir alle schon einmal Täter waren (oder haben Sie noch nie ein Kind zum Weinen gebracht?). Ein Kind, dem von einer Vertrauensperson Gewalt angetan wird, findet keine Hilfe im Kampfsport.
  • Weder Kinder noch die meisten Erwachsenen sind körperlich in der Lage, eine für den Ernstfall ausreichende Könnerschaft in einer Kampfsportart zu erreichen. Den Alten fehlt es oft an Gelenkigkeit, den Jungen an Kraft.
  • Für Kampfsportarten ist es sehr wichtig, sich von den anderen Kampfsportarten zu unterscheiden. Stilreinheit und Wiedererkennbarkeit ist ihnen wichtiger als die Frage, wie man einer Gefahr entkommt.